Flucht auf die Kanzel

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Fast nicht zu glauben: Am dritten Advent musste ich beim Gottesdienst in der Kirche Wetzwil den Platz hinter dem Tauf-stein räumen. Der Massenandrang kam nicht von ungefähr: Mit dem "Salve Regina" von Joseph Haydn sollten die Gottesdienstbesucher in den Genuss einer "Perle fürs Gemüt" kommen.
Jeder Stuhl im Kirchenschiff und jeder Platz im nicht eben bequemen Chorgestühl der Wetzwiler Kirche war besetzt, als immer noch Menschen herbeiströmten. Die im Turm gelagerten Klappstühle waren schnell zur Hand und rund um den Taufstein aufgestellt. Niemand musste stehen - und alle verfügten über ein Gesangbuch, damit jeder und jede bei den Gemeindeliedern die eigene Stimme erheben konnte.
Haydns Marienlied kam durch die vier Sängerinnen und Sänger wunderbar zur Entfaltung, die mannigfaltigen Melodievariationen und Textwiederholungen gingen unter die Haut.

Und der Funke sprang vom Vokalensemble auf die Gemeinde über. Die Gemeindelieder ertönten in selten zu hörender Fülle. Das in der Zwischenzeit vertraute "Kyrie eleison" erklang dreistimmig, das Schlusslied "Ausgang und Eingang, Anfang und Ende liegen bei dir Herr" vierstimmig im Kanon. Auch das Monatslied "Tochter Zion, freue dich" wurde zum Ohrenschmaus. Die Verkündigung des Wortes hatte ebenfalls ihren Platz. Nach der Lesung des berühmten Lobliedes der Maria, dem Magnificat (Lukas 1, 46-55), folgte eine zehnminütige Predigt zum Thema: "Was sich zu erhöhen lohnt."
Nach dem Gottesdienst war beim Verabschieden die Begeisterung und die Freude der Anwesenden gut spürbar.

Und mir als Pfarrer wurde deutlicher denn je: Gottesdienst ist ein Geschehen, das Menschen verändert und der Seele gut tut. Gott erweist den unter seinem Namen versammelten Menschen einen Dienst.
Das Wetzwiler Erlebnis vom dritten Advent 2002 wirkt nach. Es ist, wie wenn ich an jenem Sonntag zum
Jakobsbrunnen gekommen wäre, wo Jesus der samaritanischen Frau sagte: "Wer aber von dem Wasser trinkt,
das ich ihm gebe, wird in Ewigkeit nicht dürsten" (Johannes 4,14).
Ich freue mich, wenn sich im bevorstehenden Jahr möglichst viele Gemeindeglieder die Kirche als "spirituelle Tankstelle" zu Nutze machen. Hoffentlich kommen die Klappstühle in Wetzwil bald wieder zum Einsatz - machen Sie uns Pfarrern den Platz hinter dem Taufsteinungeniert streitig!
Pfarrer Andreas Schneiter-Kranich

P.S. Am dritten Advent 2003 (14. Dezember) sind Elisabeth Escher, Corina Cavegn, Andri Calonder und
Norbert Günther wiederum nach Wetzwil in den Gottesdienst eingeladen. Es lohnt sich, das Datum vorzumerken.