Wo steht die Religiosität in der Schweiz
?
Ausgehend
von zwei umfassenden Studien zur Religion analysierte Michael
Krüggeler die gegenwärtige
religiöse und kirchliche Situation. Eine Reihe persönlicher Gedanken
deutete die mögliche Weiterentwicklung an.
Am
ersten Abend des Winterprogramms der reformierten und der katholischen
Kirche von Herrliberg stellte Pfarrer
Andreas Schneiter einen Religionswissenschaftler des Pastoralsoziologischen
Instituts St. Gallen als Referenten vor. Michael Krüggeler, der in
Theologie doktoriert hatte, ging im Vortrag aus von der neuerdings beobachteten „Renaissance
der Religion“, das heisst einem zunehmenden Interesse an Spiritualität
und an Wert- und Sinnfragen. Es werde vermutet, dass man heute die Grenzen
der menschlichen Bemühungen um den naturwissenschaftlichen und technischen
Fortschritt wieder vermehrt spüre. Die Menschen würden deshalb
nach Perspektiven suchen, welche ihre heutige Welt wieder als Heimat
erlebbar machen.
Gleichzeitig verstärkt sich in unserer Gesellschaft der Kontakt mit
einer Vielfalt von Religionen und Ideologien. Neben dem Pluralismus der
Weltanschauungen steht als ein weiteres Merkmal der gesellschaftlichen
Situation der Anspruch des Einzelnen auf individuelle Handlungs- und Glaubensfreiheit.
Die so genannte religiöse Individualisierung bedeutet für den
modernen Menschen die Freiheit in religiösen Entscheiden und zugleich
die ganz persönliche Bemühung, sich selbst zu erfahren und
zu bestimmen.
Diese Gedanken stützte der Referent auf den Ergebnissen von empirischen
Studien ab. Dazu gehören insbesondere repräsentative Befragungen
in der Schweiz zu den Themen Religion, Kirche und Kultur aus den Jahren
1989 und 1999. In den Befragungen wurden die grundlegenden Typen der religiösen
Orientierung erforscht, aber auch die religiöse Praxis, die erfassbar
ist zum Beispiel durch die Häufigkeit des Kirchgangs und die Häufigkeit
des Betens. Werden die gefundenen Zahlen auf die Konfessionen bezogen,
so ist etwa beim Kirchgang der Unterschied zwischen den Freikirchen und
allen anderen christlichen Kirchen deutlich: 83 % der Mitglieder von Freikirchen
gehen mindestens einmal pro Woche zur Kirche; bei den Katholiken sind es
14 % und bei den Reformierten 5 %. Die gleiche Reihenfolge ist auch beim
Beten, der häufigsten Form der religiösen Praxis in der Schweiz,
zu erkennen, immerhin mit weniger markanten zahlenmässigen Unterschieden.
Im Sinne einer Schlussfolgerung stellte der Referent unter anderem
fest, dass in der jetzigen religiösen Situation auch die katholische Kirche
vermehrt den Anspruch auf Selbstbestimmung unter ihren Mitgliedern zu respektieren
hat. Allgemein müssten die Volkskirchen entscheiden, ob sie ihre Stellung
in der Weise fortsetzen wollen, dass sie innerkirchlich eine Vielfalt von
unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, Lebensformen, Wert- und
Glaubensvorstellungen pflegen.
Einen bedeutsamen Wesenszug der heutigen christlichen Kirchen sieht
Krüggeler
darin, dass sie sich als weltweite Gemeinschaften verstehen. Sie müssten
den globalen Anspruch nun vor allem im Bestreben nach einem interreligiösen
und interkulturellen Dialog mit anderen Teilen der Menschheit verwirklichen.
Ein abschliessender Gedanke des Referenten öffnete den Blick auf eine
mögliche Zukunft. Die Existenzberechtigung der Volkskirchen liege
heute in einer religiös anspruchsvollen Deutung alter und neuer
Lebensfragen. Es gehe um Lebenserfahrung und Selbsterfahrung im Licht
der christlichen
Anschauung, nicht um dogmatisch abgesicherte Lehren.
Ueli Moser, Kirchenpfleger
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