Oekumenisches Winterprogramm 2006

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Volkskirche im Gegenwind

Mittwoch,18. Januar 2006 - Erster Vortragsabend


Wo steht die Religiosität in der Schweiz ?

Ausgehend von zwei umfassenden Studien zur Religion analysierte Michael Krüggeler die gegenwärtige religiöse und kirchliche Situation. Eine Reihe persönlicher Gedanken deutete die mögliche Weiterentwicklung an.


Am ersten Abend des Winterprogramms der reformierten und der katholischen Kirche von Herrliberg stellte Pfarrer Andreas Schneiter einen Religionswissenschaftler des Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen als Referenten vor. Michael Krüggeler, der in Theologie doktoriert hatte, ging im Vortrag aus von der neuerdings beobachteten „Renaissance der Religion“, das heisst einem zunehmenden Interesse an Spiritualität und an Wert- und Sinnfragen. Es werde vermutet, dass man heute die Grenzen der menschlichen Bemühungen um den naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt wieder vermehrt spüre. Die Menschen würden deshalb nach Perspektiven suchen, welche ihre heutige Welt wieder als Heimat erlebbar machen.

Gleichzeitig verstärkt sich in unserer Gesellschaft der Kontakt mit einer Vielfalt von Religionen und Ideologien. Neben dem Pluralismus der Weltanschauungen steht als ein weiteres Merkmal der gesellschaftlichen Situation der Anspruch des Einzelnen auf individuelle Handlungs- und Glaubensfreiheit. Die so genannte religiöse Individualisierung bedeutet für den modernen Menschen die Freiheit in religiösen Entscheiden und zugleich die ganz persönliche Bemühung, sich selbst zu erfahren und zu bestimmen.

Diese Gedanken stützte der Referent auf den Ergebnissen von empirischen Studien ab. Dazu gehören insbesondere repräsentative Befragungen in der Schweiz zu den Themen Religion, Kirche und Kultur aus den Jahren 1989 und 1999. In den Befragungen wurden die grundlegenden Typen der religiösen Orientierung erforscht, aber auch die religiöse Praxis, die erfassbar ist zum Beispiel durch die Häufigkeit des Kirchgangs und die Häufigkeit des Betens. Werden die gefundenen Zahlen auf die Konfessionen bezogen, so ist etwa beim Kirchgang der Unterschied zwischen den Freikirchen und allen anderen christlichen Kirchen deutlich: 83 % der Mitglieder von Freikirchen gehen mindestens einmal pro Woche zur Kirche; bei den Katholiken sind es 14 % und bei den Reformierten 5 %. Die gleiche Reihenfolge ist auch beim Beten, der häufigsten Form der religiösen Praxis in der Schweiz, zu erkennen, immerhin mit weniger markanten zahlenmässigen Unterschieden.

Im Sinne einer Schlussfolgerung stellte der Referent unter anderem fest, dass in der jetzigen religiösen Situation auch die katholische Kirche vermehrt den Anspruch auf Selbstbestimmung unter ihren Mitgliedern zu respektieren hat. Allgemein müssten die Volkskirchen entscheiden, ob sie ihre Stellung in der Weise fortsetzen wollen, dass sie innerkirchlich eine Vielfalt von unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, Lebensformen, Wert- und Glaubensvorstellungen pflegen.

Einen bedeutsamen Wesenszug der heutigen christlichen Kirchen sieht Krüggeler darin, dass sie sich als weltweite Gemeinschaften verstehen. Sie müssten den globalen Anspruch nun vor allem im Bestreben nach einem interreligiösen und interkulturellen Dialog mit anderen Teilen der Menschheit verwirklichen.

Ein abschliessender Gedanke des Referenten öffnete den Blick auf eine mögliche Zukunft. Die Existenzberechtigung der Volkskirchen liege heute in einer religiös anspruchsvollen Deutung alter und neuer Lebensfragen. Es gehe um Lebenserfahrung und Selbsterfahrung im Licht der christlichen Anschauung, nicht um dogmatisch abgesicherte Lehren.

Ueli Moser, Kirchenpfleger