Oekumenisches Winterprogramm 2006

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Volkskirche im Gegenwind

Donnerstag, 26. Januar 2006 - Zweiter Vortragsabend


Nach Misserfolg zu neuer Zuversicht


Enttäuschung nach der langjährigen pfarramtlichen Arbeit und Hoffnung angesichts einer vielleicht ungewohnten Schau der Grundlagen des Glaubens: Das waren die beiden Pole des Vortrags von Hugo Gehring.


Marco Anders, Gemeindeleiter in der katholischen Kirche Herrliberg, hiess am zweiten Abend des ökumenischen Winterprogramms mit dem Winterthurer Pfarrer Hugo Gehring einen Mann aus der volksnahen Praxis als Referenten willkommen. Kontrastierend zum ersten Vortrag der Veranstaltungsreihe, in welchem ein Religionswissenschaftler die Volkskirche gewissermassen von aussen analysierte, erlebten die Zuhörenden dieses Mal eine Art Innenansicht der Kirche.

Hugo Gehring trug seine vielfältigen Erfahrungen aus einer 25-jährigen Tätigkeit als Religionslehrer, Jugendseelsorger, Vikar und Ortspfarrer in einer ungeschminkten, vom direkten Kontakt mit dem Kirchenvolk geprägten Sprache vor. In seiner Sicht war insbesondere seine hingebungsvolle und begeisterte Tätigkeit als Religionslehrer nicht oder nur in Einzelfällen von Erfolg gekrönt. Als Beispiele führte er junge Leute an, die nach jahrelanger, engagierter Mitwirkung in der Arbeit der Kirche von einem Tag auf den andern sich vom kirchlichen Bereich abwendeten.

Als wesentlichen Grund für seinen Misserfolg in der Glaubensvermittlung an die Jugend sieht Gehring die allgemeine Individualisierung der Menschen in unserer heutigen Gesellschaft. Getan und gelebt werde vor allem das, was dem Einzelnen nützt oder Spass macht. Der Rückgang des Gottesdienstbesuchs hierzulande ist nach Gehring seit etwa Mitte der 1960er-Jahre von der Ausbreitung des Wohlstands verursacht. Der Wohlstand in einer zuvor nie dagewesenen Breite mache zudem anfälliger für alle Arten von Süchten und für seelische Krankheiten – Phänomene, die sich in einer von existentieller Anstrengung oder gar Not geprägten gesellschaftlichen Situation viel weniger manifestieren würden. Die Volkskirchen würden heute von vielen als Unternehmen gesehen, die den Mitgliedern Dienstleistungen anzubieten hätten, und viel weniger als Gemeinschaften von Gläubigen, meinte der Referent. Erfolgreich in Bezug auf die Zahl der Anhänger sind etwa die Freikirchen, und zwar wegen ihres oft besonderen Stils und, was zunächst überrascht, wegen der festen Bindung ihrer Mitglieder.

Im zweiten Teil seines Erfahrungsberichts befasste sich Gehring mit der Frage, wie der religiös interessierte Einzelne mit der aktuellen Situation umgehen kann. Eine tragfähige Antwort lässt sich in den Anschauungen des katholischen Theologen Karl Rahner finden. Rahner sieht den Menschen als ein Geschöpf, das dauernd danach drängt, seine unbefriedigten Bedürfnisse zu stillen, seine Suche nach absolut geltenden Erkenntnissen voranzutreiben. Er gelangt nie in einen Zustand vollkommener, rundum abgeschlossener Zufriedenheit, ausser vielleicht in einer Phase umfassender Liebe zu einem Mitmenschen. Eine Rechtfertigung des Lebens des Menschen lässt sich laut Rahner von uns nicht finden. Durch seine Existenz allein erhält der Mensch jedoch einen absoluten Wert. Dementsprechend gewinnt der Glaube die stärkste tragende Kraft, wenn er das Dasein selbst zum Inhalt hat. Diese Sichtweise erleichtert, ja: ermöglicht erst, sich im Sinne der Mitmenschlichkeit zu verhalten, so wie Jesus sie gelebt hat.

Ausgehend vom Gleichnis des Sämanns machte Hugo Gehring klar, dass wir wohl mit aller Aufrichtigkeit und Sorgfalt säen können, dass aber das Aufgehen und Wachsen der Saat nicht unsere Sache ist. Wir können hoffen, ja: wir können nicht leben ohne zu hoffen. Wie jedoch das Leben vor sich gehen und ausgehen wird, bleibt ein Geheimnis.

Ueli Moser, Kirchenpfleger