Gedanken
eines Theologieprofessors zur Spiritualität in den
Volkskirchen
„
Frömmigkeit bedeutet Denken“
„
Volkskirche im Gegenwind“ heisst Herrlibergs ökumenisches Winterprogramm.
Eher eine Flaute hat Theologieprofessor Ralph Kunz in seinem Referat diagnostiziert – und
für mehr Innenleben in der Kirche plädiert.
Eine Gradmessung der Frömmigkeit in den modernen Volkskirchen hat
der Zürcher Theologieprofessor Ralph Kunz am Mittwochabend in Herrliberg
vorgenommen. Sein Referat versuchte er aus einem fast meteorologischen
Blickwinkel in die Vortragsreihe der beiden Kirchgemeinden mit der Überschrift „Volkskirche
im Gegenwind“ einzuordnen: Kunz ortete in der gegenwärtigen
Situation der Kirchen nicht nur äusseren Gegenwind – „die
'Unkirchlichkeit'
des Zeitalters wurde schon vor 180 Jahren von Experten
beklagt“ –,
sondern auch innerhalb der Institution Auf- und
Abwinde und bisweilen eine Bise. Kunz legte den Akzent seiner Betrachtungen
damit weniger auf Strömungen
von aussen, gegen die sich die Kirche behaupten
muss, sondern auf die Wetterlage innerhalb der Kirche: „Wir machen
Wind – oder eben nicht“,
sagte er und diagnostizierte eine Flaute in der
geistlichen Energie der Kirchenglieder. Der Grund: Im Volk fehle
die Liebe zur Kirche, „die
Kirche ist für viele zur Nebensache geworden“.
Doch Kunz beliess es nicht bei dieser Analyse,
die „wohl auch zu
einfach wäre“, wie er sagte. Vielmehr zeigte er mit einem Blick
in die Geschichte, dass der soziale Kontrollverlust der Kirche oder die
Forderung von Christen nach der Freiheit, ihren Glauben eigenständig
zu formulieren, keineswegs neu seien. Der Gegenwind sei zum Teil sogar
hausgemacht – nämlich durch die Organisation
von Religion, respektive ihre soziale Gestaltung
in den vergangenen
Jahrhunderten.
Begonnen hat die christliche Kirche als religiöse Bewegung, die man
heute laut Kunz als Sekte bezeichnen könnte: Ein Wanderprediger ruft
eine Schar von Männern und Frauen in die Nachfolge, die heilen, predigen
und erfüllt sind von der Hoffnung auf das bevorstehende Reich Gottes. „Könnte
man die Temperatur dieser Spiritualität messen, würde das religiöse
Thermometer Hitze anzeigen“, sagte der Referent. In der Folge musste
aber diese neu entstandene Religion organisiert werden: Aus der radikalen
Wanderbewegung wurden Gemeinden, erste Schriften folgten, kirchliche Ämter
wurden vergeben. Die Institution Kirche entstand. Tendenz der „spirituellen
Temperatur“: abnehmend. In der Neuzeit schliesslich der nächste
Reformschritt: Die Kirche gibt Macht ab, ist nicht mehr länger zuständig
für Recht, Gesundheit und Erziehung. An ihre Stelle tritt der Staat.
Die Kirche wird eine Organisation unter anderen, liberal in ihrer Einstellung:
Heute kann man in die Kirche eintreten und wieder austreten, niemand kann
Glauben erzwingen. Aber: „In einer solchen Organisation würde
das religiöse Thermometer nur noch Kälte
anzeigen.“
Diese letzte Skizze erinnert an den heutigen
Zustand – und ist es
doch nicht. Denn die Kirche sei alles, was er eben aufgezählt habe,
zugleich, sagte Ralph Kunz. Wenngleich sie sich heute im Gegenwind des
Marktes positionieren müsse, sei sie noch immer „eine Bewegung,
die von der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung Jesu lebt“. Mündige
Christen sollten weder dem einen noch dem anderen verfallen, weder der
nüchternen Reduzierung auf eine Firma noch überhitztem sektiererischen
Glauben. Die persönliche Spiritualität müsse sich mit dem
Wissen um die Geschichte der Kirche paaren, um sich über den eigenen
Glauben scharfe Gedanken machen zu können. Und solche fordert Kunz: „Frömmigkeit
braucht Theologie, sie bedeutet Denken. Glauben
heisst nicht, das Hirn abzuschalten.“
Heute hätten Menschen innerhalb des Christentums zu eigenständigen
Formulierungen ihres Glaubens gefunden. Sich
auf den gemeinsamen Ursprung zu konzentrieren, all diese Verschiedenheiten
umfassend, sei heute die
Aufgabe der Volkskirche. Nicht nur den Glauben
in der Kirche, sondern auch den Glauben an die Kirche zu bekennen, forderte
deshalb der Theologe zum
Abschluss seiner Betrachtungen über die
kirchliche „Grosswetterlage“.
Sein eigenes Feuer für die Sache nahm man
ihm dabei sofort ab.
Anna Moser
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