Oekumenisches Winterprogramm 2006

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Volkskirche im Gegenwind

Mittwoch, 1. Februar 2006 - Dritter Vortragsabend


Gedanken eines Theologieprofessors zur Spiritualität in den Volkskirchen

„ Frömmigkeit bedeutet Denken“


„ Volkskirche im Gegenwind“ heisst Herrlibergs ökumenisches Winterprogramm. Eher eine Flaute hat Theologieprofessor Ralph Kunz in seinem Referat diagnostiziert – und für mehr Innenleben in der Kirche plädiert.

Eine Gradmessung der Frömmigkeit in den modernen Volkskirchen hat der Zürcher Theologieprofessor Ralph Kunz am Mittwochabend in Herrliberg vorgenommen. Sein Referat versuchte er aus einem fast meteorologischen Blickwinkel in die Vortragsreihe der beiden Kirchgemeinden mit der Überschrift „Volkskirche im Gegenwind“ einzuordnen: Kunz ortete in der gegenwärtigen Situation der Kirchen nicht nur äusseren Gegenwind – „die '
Unkirchlichkeit' des Zeitalters wurde schon vor 180 Jahren von Experten beklagt“ –, sondern auch innerhalb der Institution Auf- und Abwinde und bisweilen eine Bise. Kunz legte den Akzent seiner Betrachtungen damit weniger auf Strömungen von aussen, gegen die sich die Kirche behaupten muss, sondern auf die Wetterlage innerhalb der Kirche: „Wir machen Wind – oder eben nicht“, sagte er und diagnostizierte eine Flaute in der geistlichen Energie der Kirchenglieder. Der Grund: Im Volk fehle die Liebe zur Kirche, „die Kirche ist für viele zur Nebensache geworden“.

Doch Kunz beliess es nicht bei dieser Analyse, die „wohl auch zu einfach wäre“, wie er sagte. Vielmehr zeigte er mit einem Blick in die Geschichte, dass der soziale Kontrollverlust der Kirche oder die Forderung von Christen nach der Freiheit, ihren Glauben eigenständig zu formulieren, keineswegs neu seien. Der Gegenwind sei zum Teil sogar hausgemacht – nämlich durch die Organisation von Religion, respektive ihre soziale Gestaltung in den vergangenen Jahrhunderten.

Begonnen hat die christliche Kirche als religiöse Bewegung, die man heute laut Kunz als Sekte bezeichnen könnte: Ein Wanderprediger ruft eine Schar von Männern und Frauen in die Nachfolge, die heilen, predigen und erfüllt sind von der Hoffnung auf das bevorstehende Reich Gottes. „Könnte man die Temperatur dieser Spiritualität messen, würde das religiöse Thermometer Hitze anzeigen“, sagte der Referent. In der Folge musste aber diese neu entstandene Religion organisiert werden: Aus der radikalen Wanderbewegung wurden Gemeinden, erste Schriften folgten, kirchliche Ämter wurden vergeben. Die Institution Kirche entstand. Tendenz der „spirituellen Temperatur“: abnehmend. In der Neuzeit schliesslich der nächste Reformschritt: Die Kirche gibt Macht ab, ist nicht mehr länger zuständig für Recht, Gesundheit und Erziehung. An ihre Stelle tritt der Staat. Die Kirche wird eine Organisation unter anderen, liberal in ihrer Einstellung: Heute kann man in die Kirche eintreten und wieder austreten, niemand kann Glauben erzwingen. Aber: „In einer solchen Organisation würde das religiöse Thermometer nur noch Kälte anzeigen.“
Diese letzte Skizze erinnert an den heutigen Zustand – und ist es doch nicht. Denn die Kirche sei alles, was er eben aufgezählt habe, zugleich, sagte Ralph Kunz. Wenngleich sie sich heute im Gegenwind des Marktes positionieren müsse, sei sie noch immer „eine Bewegung, die von der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung Jesu lebt“. Mündige Christen sollten weder dem einen noch dem anderen verfallen, weder der nüchternen Reduzierung auf eine Firma noch überhitztem sektiererischen Glauben. Die persönliche Spiritualität müsse sich mit dem Wissen um die Geschichte der Kirche paaren, um sich über den eigenen Glauben scharfe Gedanken machen zu können. Und solche fordert Kunz: „Frömmigkeit braucht Theologie, sie bedeutet Denken. Glauben heisst nicht, das Hirn abzuschalten.“

Heute hätten Menschen innerhalb des Christentums zu eigenständigen Formulierungen ihres Glaubens gefunden. Sich auf den gemeinsamen Ursprung zu konzentrieren, all diese Verschiedenheiten umfassend, sei heute die Aufgabe der Volkskirche. Nicht nur den Glauben in der Kirche, sondern auch den Glauben an die Kirche zu bekennen, forderte deshalb der Theologe zum Abschluss seiner Betrachtungen über die kirchliche „Grosswetterlage“. Sein eigenes Feuer für die Sache nahm man ihm dabei sofort ab.

Anna Moser